Frau Söllinger, Sie kommen beruflich aus dem Bildungsbereich. Sie unterrichteten am Gymnasium Dachsberg und waren im Bereich Fortbildung – Wissenschaft und Forschung an der PH OÖ in Linz beschäftigt. Sie sind also ein absoluter bildungspolitischer Profi, wenn man so will. Beschreiben Sie bitte, was Bildung für Sie bedeutet und was es für junge Menschen bedeuten SOLL.
Bildung bedeutet für mich in erster Linie eine kulturelle Formung des Menschen. Mir war als Lehrerin immer wichtig, dass Kinder und Jugendliche vom bulimischen Lernen wegkommen. Es muss in unserer heutigen Zeit, die geprägt von Krisen ist, hin zum kritischen und selbst bestimmten Denken in der Schule kommen. Wenn es nur um faktenbasiertes Lernen geht, kann sich der junge Mensch kein lösungsorientiertes Denken aneignen. Als Bildungssoziologin und Lehrerin weiß ich, dass unsere jungen Menschen viel weniger unter Ängsten und Depressionen leiden würden, wenn im Curriculum vieler Fächer nicht so viel Wert auf Lernen, das einen im Denken nicht viel weiterbringt, gelegt werden würde. Kant meinte mit seiner These der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, dass die Freiheit des Menschen aus seiner Selbstbestimmung kommt. Heute, im Dschungel der sozialen Medien, sind wir im Begriff, diese Freiheit zu verlieren. Schule muss sich neu denken. So wie sich Bildung seit vielen Jahren in Österreich manifestiert hat, gehen wir volkswirtschaftlich einen Weg in die Unfreiheit des Denkens, des Handelns und wir verlieren unsere Resilienz.
Sie haben Geografie und Englisch studiert, später auch Soziologie. Hat diese Kombination dazu geführt, dass Sie nach einer Nepalreise im Jahr 2015 das Projekt Child Vision Nepal gegründet haben? Was waren Ihre ersten Eindrücke dieses besonders armen Landes und wann ist der Entschluss gereift, nachhaltig zu helfen?
Im Jahr 2011 nahmen mein Mann und ich ein Sabbatical, um ein wenig Abstand vom Schulalltag zu gewinnen. Eine 6-monatige Rucksackreise in dieser Zeit hat mein Denken und mein Handeln vollkommen verändert. Wir waren als Couchsurfer unterwegs und somit bekamen wir sehr viele Einblicke in das tägliche Leben der Menschen in Entwicklungsländern, besonders dahingehend, was patriarchalisch geprägte Systeme für Frauen und Mädchen bedeuten. Ich kam erstmals in Kontakt mit Kindern, die von Pädophilen missbraucht wurden bzw. mit Kinderprostitution und Mädchenhandel. Als Frau und Mutter war ich damals erschüttert von den Lebensbedingungen der Kinder und Frauen im Hinduismus und im Islam. Nach diesen Erfahrungen wusste ich, dass ich mich humanitär in einem dieser Länder engagieren werde. Aufgrund des massiven Erdbebens im Jahr 2015 ist es das Land Nepal geworden, wo jährlich zwischen 20 000 und 25 000 Kinder, in erster Linie Mädchen, verschwinden und in Bordellen bzw. als Arbeitssklaven missbraucht werden.
Erfolgreiche Bildung ist besonders nachhaltige Hilfe, daher war der Entschluss, im Bildungsbereich
aktiv zu werden, wahrscheinlich naheliegend. Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit den Behörden in Nepal vorstellen? Ist Hilfe willkommen, oder wird sie als Einmischung von außen betrachtet?
Mein Erstkontakt in Nepal war Maiti Nepal. Diese Organisation holt Mädchen aus der Prostitution zurück. Jahrelange Pein und Qualen liegen hinter diesen Kindern. Manche mussten bis zu 40 Freier pro Tag bedienen und das manchmal in einem Alter von 12 Jahren. Ich habe mit diesen Mädchen gearbeitet und war zutiefst erschüttert von ihrer Vergangenheit. Mir wurde klar, dass man in der Bildung ansetzen muss, um das Schicksal der Dalitmädchen zu verändern. Meine Vision ist, dass Bildung diese Kinder vor dem Verkauf schützt und dass sie einen hoffnungsvollen Schritt in die Zukunft setzen können, wenn sie Lesen, Schreiben, Rechnen und Englisch als Basics erlernen.
Mein größtes Problem vor Ort stellen die patriarchalen Strukturen und die Korruption im Land dar. Für Männer sind gebildete Ehefrauen und Töchter eher eine Belastung als ein Gewinn. Die Mädchen und Frauen beginnen sich gegen die Gewalt und Ausbeutung zu wehren – und das sehen die Männer als Gefahr. Frauen und Töchter werden als Besitz angesehen.
Ein besonderes Augenmerk legen Sie in Ihrer Arbeit auf den Schutz von Mädchen: Schutz vor Verschleppung, Schutz vor Zwangsprostitution, Schutz vor Sklaverei. Gibt es aus der inzwischen 10-jährigen Geschichte Ihres Engagements in Nepal
bereits positive Beispiele, die Sie hier erzählen möchten?
Ich könnte hier an dieser Stelle sehr viele positive Beispiele aufzählen, aber das würde den Rahmen des Interviews sprengen. Meine größte Freude und größten Erfolge sind, dass ich bereits acht Badimädchen aus der Prostitution befreien konnte. In der Ethnie der Badis sind alle weiblichen Familienmitglieder Prostituierte und der Vater und Großvater sind die Zuhälter. Weiters konnten wir ein Mädchen aus Indien als Sklavin ausfindig machen. Roshni wohnt jetzt auch bei uns im Hostel, so wie weitere 26
Mädchen. Vier Kinderhochzeiten haben wir bis jetzt verhindert (Mädchen, welche mit 12 Jahren verheiratet worden wären). Diese und viele weitere Erfolge lassen mich diese schwere Aufgabe bewältigen.
Entwicklungszusammenarbeit wird meist als Einbahnstraße gesehen nach dem Grundsatz: Wir geben Geld und Know How und helfen in anderen Ländern. Gibt es etwas, was Sie sich umgekehrt von den Menschen in Nepal mitgenommen haben, das auch uns im wohlhabenden Österreich weiterbringen kann? Anders gefragt: Was können WIR von den Menschen in Nepal lernen?
Wir sind unterwegs in Slums, im Gefängnis und im Lepradorf. Was man da sieht, kann und will man nicht in Worte fassen. Somit tue ich mir wirklich schwer mit der Unzufriedenheit und der ewigen Raunzerei in Österreich. Wir leben in einem Sozialstaat und wissen gar nicht mehr, was das für uns an Glück bedeutet…ja, da wäre ich wieder bei der Bildung… Vermitteln wir dieses Glück unseren Kindern und Jugendlichen in der Schule? Wichtig zu erwähnen ist, dass ganz viel an Entwicklungshilfe in armen Ländern mittels Gießkannenprinzip passiert und das ganz oft ohne jegliche Nachhaltigkeit bzw. Gedanken, was diese Hilfe schlussendlich für die Menschen bedeutet. Oftmals werden sie schließlich zu Almosenempfängern. Was ich da alles in Nepal mitbekomme, wie NGOs vor Ort arbeiten, das lässt einen wirklich nachdenklich werden.
Sie haben Child Vision Nepal gemeinsam mit Ihrem Mann gegründet. Inzwischen hat sich das Team vergrößert und es sind auch Volontariate in Nepal möglich. Was ändert sich bei den jungen Volunteers nach Ihren Erfahrungen in einem so polarisierenden Land? Und würden Sie diese Erfahrungen als lebensprägend betrachten?
Alle meine 14 Volunteers haben diese prägende Zeit nach Österreich mitgenommen und möchten diese Erfahrungen nicht missen. Was sie dort erleben durften, hat ihr Denken und ihr Handeln in Österreich und in ihren Berufen maßgeblich verändert. Wir sind mittlerweile zu einer ChildVisionNepal-Familie zusammengewachsen und tauschen uns regelmäßig aus; auch in jährlich stattfindenden Workshops arbeiten wir für die Zukunft unseres Vereins.
Eine abschließende Frage: Was in Ihrem Leben hat am meisten MUT erfordert und wie hat/haben diese Entscheidung/en Ihr weiteres Leben beeinflusst?
Am meisten Mut hat die zweite Reise nach Nepal erfordert. Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommen würde bzw. wie ich mein Bildungsprojekt initialisieren könnte. Ich kannte die Schönheit und die Kultur von meiner ersten Reise, gleichzeitig aber auch die furchtbare Armut des Landes und die Situation der Dalits. Wir feiern nächstes Jahr 10 Jahre Child Vision Nepal. Diese zehn Jahre haben mich grundlegend verändert in meinem Denken und Handeln als Frau. Oberflächlichen Gesprächen und Menschen versuche ich so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Mit meinen Erfahrungen in Nepal ist es oft wirklich schwer, sich wieder
in die österreichische Gesellschaft mit manchen „Peanut-Problemen“ einzuklinken.
Kurzfragebogen:
Alter: 63
Aktuelle Position beruflich: seit kurzem in aktiver
Pension
Familienstatus: verheiratet, drei Söhne
Mein Power-Lieblingssong: Mozart – Kleine Nachtmusik