Stammtischdiskussionen im Wirtshaus am Putzleinsdorfer Marktplatz wurden schnell und sachlich aus der Welt geschaffen. Der Wirt holte im Gastzimmer eine Taschenbuchausgabe von „Meyers Lexikon“ aus dem Regal und schlichtete mit der Macht der Worte hitzige Debatten. Der belesene Hausherr ermunterte auch seine sieben Kinder, gegenüber den Gästen Interesse zu zeigen, mit ihnen zu plaudern und sie zu unterhalten. Tüchtigkeit und Kommunikationsfähigkeit waren gefragt, der Nachwuchs wurde leistungsorientiert erzogen.
„Auch heute noch lege ich mir die Latte sehr hoch“ gesteht Johanna Rachinger, damals eine der Töchter und heute Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek. Schon als junges Mädchen fiel sie durch ihre sprachliche und rhetorische Begabung auf, errang als 15jährige den Landessieg in einem Redewettbewerb. „Mit meiner Schwester Ida spielte ich Szenen aus Schillers Dramen nach, in mir erwachte der Wunsch, an der Hochschule mehr über Bücher und Theater zu erfahren.“ Also fasste Johanna Rachinger den Entschluss, in Wien Theaterwissenschaften und Germanistik zu studieren und setzte sich gegen anfängliche Bedenken ihrer Eltern durch. „Auch für mich war es hart, die familiäre und dörfliche Geborgenheit zu verlassen, aber der Drang nach dem Leben in der Hauptstadt war stärker.“ Das Studium ermöglichte sie sich durch ein Begabtenstipendium und ihre Tätigkeit in einem Marktforschungsinstitut, 1986 dissertierte sie mit einer Arbeit über das Wiener Volkstheater.
Nach Stationen als Lektorin beim „Wiener Frauenverlag“ wechselte Rachinger zum Österreichischen Bibliothekswerk nach Salzburg und engagierte sich dort mehrere Jahre als Leiterin der Buchberatungsstelle. „Ich habe diesen abwechslungsreichen Job geliebt, der aus Buchrezensionen und der Ankaufsberatung von Bibliotheken bestand.“ Ihre fachliche Kompetenz überzeugte den Verlag Ueberreuter, der sie 1992 nach Wien zurückholte, wo sie zur Prokuristin und wenig später zur Geschäftsführerin aufstieg. „Ich war damals erst 35 und wurde genommen, weil ich die Beste war – heute kann ich das aussprechen.“ Rachinger will diese Bewertung nicht als Überheblichkeit sondern als Appell an Frauen verstanden wissen, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, denn ohne Selbstbewusstsein ist eine Spitzenposition nicht zu erreichen.
Diese Einstellung war Schlüssel ihres Erfolgs, als die Leitung der Österreichischen Nationalbibliothek ausgeschrieben wurde: „Know-how im Verlagswesen und Management gaben neben meinen praktischen Erfahrungen den Ausschlag.“
Seit 2001 steht sie nun der Österreichischen Nationalbibliothek vor und verwaltet ein Herzstück österreichischer Identität. Zusammen mit 370 MitarbeiterInnen betreut sie die historischen Sammlungen und passt sie den Ansprüchen unserer heutigen Informationsgesellschaft an. Die Ausgliederung aus der Bundesverwaltung, Digitalisierungsprojekte im großen Ausmaß sowie die Aufarbeitung und Rückgabe jüdischen Raubgutes sieht Rachinger als ihre Meilensteine an.
Laufend werden Forschungsprojekte initiiert, Jahresberichte und wissenschaftliche Publikationen der Sammlungen veröffentlicht. „Als Generalistin höre ich auf den Rat meiner ExpertInnen, ich verlange Teamwork und Leistungsbereitschaft, frauenfreundliche Arbeitsbedingungen liegen mir besonders am Herzen.“ Als Rollenvorbild für Frauen in führenden Positionen zu dienen sieht Rachinger nicht als Belastung, sondern Herausforderung, was durch die Verleihung des „Wiener Frauenpreises“ honoriert wurde.